Zweitageswanderung mit ein paar Freunden
Der Gran Paradiso wird gerne als Vorbereitung und Akklimatisierung für die Ersteigung des Mont Blanc gemacht, da er sich in der Nähe befindet und als einer der am leichtesten zu ersteigenden 4000er gilt. Viele Agenturen bieten die beiden Gipfel zusammen in einem Paket an und dementsprechend ist es dort auch meist recht voll. Wir wollten den Normalweg über die Rifugio Vittorio Emanuele II nehmen und am zweiten Tag sollten wir, wenn alles nach Plan lief, den Gipfel erreichen.
Eigentlich hatten wir andere Wochenendpläne gehabt, aber da es so aussah, als würde uns der starke Wind einen Strich durch die Rechnung machen, beschlossen wir nach Italien zu fahren, wo das Wetter besser sein sollte.
Tag 1:
Wir hatten den Start der Tour für Freitag geplant, so dass der Aufstieg auf den Gipfel Samstag erfolgen sollte. Wir hofften so dem größten Wochenendansturm entkommen zu können. Mittags ging es also los – wir hatten mehr als genug Zeit, denn jetzt im Juni geht die Sonne erst sehr spät unter. Durch den Mont-Blanc-Tunnel ging es nach Italien ins Aosta-Tal, das mit seinen vielen Burgen und schönen Berghängen sowieso einen Besuch wert ist. Nach knapp zwei Stunden kamen wir am großen Parkplatz an. Unser Ziel, die weiße Bergspitze des 4000ers, lag hinter anderen Berghängen verborgen.
Es war warm und sehr trocken, die Sonne brannte auf uns hinab und man merkte kaum, dass man sich schon auf 2000 m befand. So hoch zu starten fühlte sich fast wie schummeln an, aber wir würden schon noch genug Höhenmeter machen. An den Autos überprüften wir noch einmal unser mitgebrachtes Equipment und verteilten einige Dinge neu. Ich zum Beispiel besitze keine Eisschraube und lieh mir daher eine aus. Wir waren zu sechst und einer aus der Gruppe ging gerne Eisklettern, so dass er genug Schrauben besaß. Praktisch.
Da unser ursprünglicher Plan eine Nacht im Zelt auf einem Gletscher gewesen war, hatten wir auch für diesen Ausweichplan Campingsachen mitgebracht, so dass unsere Rucksäcke recht voll und schwer waren. Um zu unserem Nachtlager bei der Rifugio Emanuele zu kommen, mussten wir jedoch zunächst die etwa 700 Höhenmeter meistern. Der Weg war angenehm breit, gut ausgebaut, viele Tagesgäste gingen hier Wandern. Familien stiegen zu der Rifugio hinauf, aßen dort zu Mittag und stiegen später wieder hinab.
Wir trafen einige Bergsteiger, die müde aussahen und fragten sie nach ihren Gipfelerfahrungen. Wir hatten auch morgens in der Rifugio angerufen und uns sagen lassen, dass der Weg in super Kondition war, was uns nun wieder bestätigt wurde. Da ich noch nicht alle aus unserer Gruppe gut kannte, verging die Zeit hinauf schnell mit interessanten Gesprächen. Wir waren mit vier Niederländern unterwegs, die auch alle in Chamonix wohnen.
In Serpentinen ging es recht steil den Hang hinauf, den wir vom Parkplatz unten hatten sehen können, kleine Blumen blühten am Wegesrand in jeder erdenklichen Farbe: von weiß über gelb zu rot und sogar tiefblau. Eine aus der Gruppe kannte sich ein bisschen mit der Flora aus und zeigte uns prähistorisches Moos, das in perfekt runden Kreisen wuchs, um die Feuchtigkeit besser zu speichern. Es war ein schöner Weg, der oben langsam felsiger wurde und kaum hatten wir die Bergflanke hinter uns zurückgelassen und waren auf das kleine Plateau gestiegen, sahen wir auch schon die Hütte in der Sonne strahlen (das Dach ist aus Metall). Wir hatten es geschafft. Wir waren nun auf 2732 m angekommen, unserem Ziel für Tag 1.
Auf der sonnigen Terrasse war noch ein Tisch frei, an dem wir uns seufzend niederließen. Die schweren Rucksäcke fielen auf den Boden und die Schuhe wurden ausgezogen. Wir füllten unsere Wasserflaschen auf und fragten nach, wo man hier Campen dürfte. Leider sahen die Gastwirte das heute jedoch nicht so gerne, da die Hütte noch so viele Schlafplätze frei hatte. Da für Samstag alles voll sein sollte, hätten wir eine Nacht später gerne Campen können – an diesem Tag war die Alternative jedoch weiter in die Berge zu steigen ohne Trinkwasserzugang. Da uns die Rifugio allerdings ein Einzelzimmer und einen guten Preis anbot, nahmen wir das Angebot an und hatten eben unsere Beine ein wenig mehr trainiert, indem wir die Zelte mitgeschleppt hatten. Unser Abendessen bereiteten wir trotzdem selbst zu und sparten dadurch noch einmal viel Geld.
Es wurde ein entspannter Abend, der langsam kühler wurde. Es blieb jedoch noch lange hell und von unserer Terrasse hatten wir einen wunderbaren Ausblick über einen kleinen Bergsee und einen dahinterliegenden Berg mit Schneekuppe, den wir anfänglich für den Gran Paradiso hielten. Das Alpenglühen der untergehenden Sonne hing eine Zeitlang auf dem Weiß des Schnees und dann ging es auch schon ins Bett. Die Nacht würde kurz werden.
Tag 2:
Um 3 Uhr morgens klingelte uns der Wecker aus dem mehr oder weniger tiefen Schlaf. Ich schlafe in Höhen über 2000 m eh nicht gut, also wurde meine Ruhephase einfach nur beendet. Es war stockdunkel draußen und ohne Stirnlampe hätte ich die Toilette 200 m weiter unten nicht gefunden. Wir hatten am Abend zuvor besprochen, dass wir um 4 Uhr starten wollen – eine Stunde sollte für jeden zum Fertigmachen reichen. Einige frühstückten, andere brauchten länger beim Packen ihres Rucksacks und am Ende mussten wir dann doch noch fast 20 Minuten auf die Nachzügler warten. Einige Gruppen waren vor uns aufgebrochen, so dass wir die Stirnlampenkegel in der Ferne sehen konnten. Wir schlossen uns gegen 20 nach 4 Uhr an.
Zunächst ging es durch eine Felswüste mit großen Brocken, über die man hüpfen musste. Den Weg markierten kleine Steinkegel. Dann ging es an den Anstieg. Etwa eine Stunde arbeiteten wir uns eine Geröllflanke hinauf, bis wir auf eine Schneezunge stießen, an der alle Gruppen ihre Steigeisen anlegten und eine kurze Pause machten. Der Himmel wurde minütlich heller und kurze Zeit später leuchteten die ersten Bergspitzen im rosa Licht der aufgehenden Sonne, die für uns jedoch für einige weitere Stunden verborgen sein würde. Wir stiegen auf dem Westgrat auf, so dass die Sonne auf der anderen Seite des Gran Paradiso leuchtete. An einem warmen, sonnigen Tag wie diesem war das jedoch ein Glück für uns und die Sonnencreme-Packungen.
Es ging nun stetig bergauf im Schnee und wir wurden von vielen anderen Gruppen überholt. Wir waren zu langsam. Also stoppten wir einige Zeit später und mussten eine unangenehme Entscheidung treffen. In diesem Tempo würden wir viel zu spät am Gipfel ankommen und der Schnee würde mit den steigenden Temperaturen immer weicher werden, was den Aufstieg erschweren würde. Außerdem kannten wir die Begebenheiten des oberen Teils nicht und wollten nicht von Seracfällen oder anderen unangenehmen Überraschungen, die tauendes Eis mit sich bringt, erwartet werden. Also kehrten zwei aus unserer Gruppe nun um und wir restlichen vier machten uns wieder auf den Weg hinauf auf den noch fast 1000 Höhenmeter entfernten Gipfel des Gran Paradiso.
Wir kamen nun schneller voran und schlossen wieder zu den anderen Gruppen auf. Am Rande des Gletschers machten wir noch eine kleine Pause, wo jeder ein letztes Mal Pinkeln konnte, denn nun würden unsere Klettergurte zum Einsatz kommen und wir würden für den Rest des Weges eine Seilschaft bilden. Bei vier Leuten sollte eigentlich ein Seil reichen, aber wir hatten beide Seile mitgenommen, falls es doch nötig sein sollte, dass wir uns aufteilen. Die Geschwindigkeit bestimmte die erste Person am Seil, die jedoch unglücklicherweise eine Ultra-Runnerin war, so dass der Rest nach einer Viertelstunde darum bat etwas langsamer gehen zu dürfen. Wir mussten ja nicht versuchen wirklich jede andere Gruppe vor uns noch einzuholen. Die Atmung fiel auch immer schwerer je höher wir kamen und flache Stellen gab es kaum. Wir stiegen hoch und kamen mit jedem Schritt und jedem mühsamen Atemzug ein kleines Stück näher an den Gipfel.
Der Gran Paradiso gilt als einer der leichtesten 4000er, weil er technisch nicht schwer ist und die Gletscher, auf denen wir uns bewegten, kaum Gletscherspalten aufweisen. So war es „nur“ eine schwere, langsame Wanderung immer weiter hinauf durch den Schnee.
Bald erreichten wir ein kleines Plateau, das teilweise in der Sonne lag. Hier machten wir noch eine letzte Trinkpause, denn der Gipfel lag nun über uns – endlich sichtbar. Felsen ragen dort aus dem Schnee, man konnte von hier sogar schon die Leute erkennen, die sich gerade auf dem Gipfel befanden. Zwischen uns und dem Gipfel lag eine Abbruchkante des Gletschers, die alle Gruppen großzügig umschritten, und so folgten auch wir der breiten Spur im Schnee. Wir schlichen langsam vorwärts in diesem Zeitlupentempo, das man aus allen Bergsteigerfilmen oder kurzen Filmausschnitten von Leuten, die sich den Everest hinaufschleppen, kennt. Schritt, einatmen, Schritt, ausatmen. Immer weiter. Den Blick auf den Boden gerichtet. Die Gedanken werden seltsam leer, es zählt nur noch der nächste Schritt, denn umkehren will niemand.
Und dann waren wir quasi da. Nach etwa 5 Stunden erreichten wir gegen 9:30 Uhr den unteren Teil des Gipfels. Die dunklen Felsen lagen vor uns, eine Schlange von wartenden Gruppen hatte sich gebildet. Da der Gran Paradiso so beliebt ist, wurde ein Einbahnsystem über den Gipfel eingeführt, gesichert mit Haken, durch die wir unser Seil führen konnten. Auf der einen Seite hinein, auf der anderen hinaus – es wäre zu gefährlich dies über den gleichen Weg zu machen, da einfach nicht genug Platz ist, um jemanden zu überholen.
Es ging steil auf beiden Seiten herab, so dass man definitiv schwindelfrei sein sollte. Ich war die zweite am Seil, das wir von Gletscherlänge nun auf Kletterlänge gekürzt hatten. Man musste sich fast am Fels entlanghangeln, denn für die Füße gab es nur einen schmalen Pfad. Wir zogen unsere Steigeisen nicht aus und für mich fühlt es sich immer etwas wackelig und merkwürdig an auf Stahlzacken unter den Füßen über Felsen zu laufen. Wir kamen aber eh nicht schnell vorwärts, da vor uns einige Gruppen mit Bergführer waren, bei denen die Klienten definitiv weniger Erfahrung in den Bergen hatten als wir. Also entspannt die Dreipunktetechnik anwenden: immer drei Punkte berühren den Fels von den vier möglichen Händen / Füßen. Nicht vergessen das Seil immer wieder einzuklinken, so dass die nachfolgenden Personen gesichert sind, falls jemand stürzen sollte.
Ein paar Leiterstufen erleichterten den letzten, lungenzerreißenden Aufstieg und dann waren wir auf dem Felsen mit der Madonna angekommen. Nicht sehr groß fiel die weiße Statue kaum auf, so umringt war sie von bunt gekleideten Bergsteigern. Funfact: dies ist nicht der wahre Gipfel des Gran Paradiso. Der liegt nämlich ein paar Meter neben uns, hat jedoch keinen gesicherten Aufstieg und auch keine Statue und ist nur minimal kleiner. Aber wenn man es streng nimmt, waren wir nie auf dem Gipfel des Gran Paradiso. Vielleicht muss ich also noch mal wiederkommen.
Endlich waren wir an der Reihe kurz ein Foto mit der Marienstatue zu machen, die so viele Gipfel der italienischen Alpen schmückt, und dann reihten wir uns wieder ein in die Warteschlange hinab. Dieser Teil war nicht ganz so gut gesichert, aber klettertechnisch etwas einfacher, auch wenn es sich ganz merkwürdig anfühlt, wenn man weiß, dass das Seil nicht wirklich irgendwo fest ist. Aber auch diese Stelle ließen wir hinter uns und kamen wieder auf dem „festen“ Boden des Gletschers an. Das Seil wurde wieder länger gemacht und dann ging es an den langen, langen Abstieg.
Der Schnee war nun deutlich weicher und selbst in Steigeisen rutschte man ein wenig herum. Teilweise joggten wir hinab, wir wollten schnell wieder unten sein.
Durch die Ebene am Ende mit den vielen Felsen, war noch einmal Konzentration angesagt, es wäre nicht das erste Mal, dass sich jemand den Knöchel auf den letzten Metern verstaucht, wenn die Konzentration nachlässt und die Müdigkeit die Beine schwer werden lässt. Doch wir schafften es alle unversehrt zurück zur Rifugio Emanuele, wo unsere zwei zurückgebliebenen Wegbegleiter schon auf uns warteten.
Füße entspannen, Beine hochlegen, Mittagessen und eine wohlverdiente Cola trinken.
Leider war dies jedoch noch nicht alles, denn nun mussten unsere Rucksäcke wieder mit unseren Campingsachen gefüllt werden und dann ging es die letzten 1,5 Stunden zurück zu den Autos, wo wir gegen 16 Uhr ankamen. Am Ende stand für diesen Tag folgendes auf den Handys / Fitnessuhren: Wir waren etwa 1500 m angestiegen, waren 2000 Höhenmeter wieder abgestiegen und hatten eine Strecke von knapp 18 km zurückgelegt. Fast 12 Stunden nachdem wir am Morgen aufgebrochen waren kamen wir auf dem Parkplatz an. Meine armen Füße und Waden und Oberschenkel, an deren Existenz ich die nächsten Tage immer wieder durch Muskelkater erinnert wurde.
Fazit:
Motivierende Sprüche wie „Go Team!“ und „Team Paradise!“ wurden abgelöst von Worten wie „Sufferfest“ und das ganze Abenteuer hat im Rückblick mehr Spaß gemacht als beim tatsächlichen Tun. Aber dies war mein erster Berg, den ich ohne Bergsteiger bestiegen habe, und es wird bestimmt nicht mein letzter sein. So eine wunderschöne Welt in Schnee und Eis, wuchtige Felsspitzen und ungebändigte Natur. Und natürlich die Aussichten, die man nur von den höchsten Bergen einer Gegend bekommen kann.
Ich habe ein ganzes Buch gelesen, das sich der Frage widmet warum wir auf Berge steigen. Es ist hart zu erklären, warum jede Entbehrung und das Über-seine-Grenzen-Gehen zu solch einem Hochgefühl führt, aber jeder Schmerz ist es am Ende tausendfach wert.