Über viele Pässe nach Italien
Die erste Etappe hatte für mich kurz hinter der Berghütte Nant-Borrant auf einem Bivouak-Platz geendet. Die zweite Etappe der Tour du Mont Blanc sollte in 19 Kilometern von Les Contamines (an dem ich schon vorbei war) über den Col de la Croix du Bonhomme (2.483 m) bis nach Les Chapieux führen, einem kleinen Dorf im Tal. Eine Variante führt am Ende über einen weiteren, noch höheren Pass durch die Berge und kürzte die Etappe des darauffolgenden dritten Tages somit ab, da man nicht bis hinunter in das Tal steigen muss. Von dort geht es zu einem dritten Pass, der die Grenze zwischen Frankreich und Italien markiert.
Blauer Himmel und Sonnenschein, der noch nicht im Tal angekommen war, begrüßten mich nach meiner ersten Nacht in den Bergen und im Zelt. Wahnsinnig gut hatte ich nicht geschlafen, was mich nicht weiter überraschte, aber die Ruhezeit hatte definitiv ausgereicht, um meine erschöpften Beine wieder zu regenerieren. Da ich eh kein großer Frühstücks-Esser bin, packte ich einfach nur meine Sachen zusammen und lief gegen 8 Uhr los.
Es ging tiefer hinein in die Berge – zunächst entspannt auf dem breiten Schotterweg, der die verschiedenen Berghütten in diesem Tal verbindet. Es ging auch stetig bergauf, jedoch zunächst noch recht sanft. Ich hielt nach 10 Minuten schon das erste Mal an, da ich an einen Trinkwasserbrunnen kam, wo auch die kurz nach mir aufgebrochene Gruppe stoppte. Ich musste mich noch hereinfinden, aber an diesem Tag spielte es sich langsam ein: Wasser wurde immer aufgefüllt, wenn es möglich war. Ich wollte am besten nie unter einen halben Liter Wasser kommen. Man muss tatsächlich seine Augen aufhalten, um Wasser zu finden: meist gibt es bei Berghütten Trinkwasser, aber ich trank auch aus Flüssen und Bächen, wenn sie über 2.000 m Höhe lagen. Die Reinigungstabletten hatte ich nur für den Notfall dabei, falls ich Wasser aus Flüssen oder Seen nehmen müsste, die nicht frisch aus den hohen Bergen sprudelten. Ohne Essen komme ich recht lange aus, aber auf Wasser kann ich bei sportlicher Aktivität nicht verzichten und ich trank ziemlich viel über den Tag verteilt.
Refuge de la Balme über Col de la Croix du Bonhomme und Col des Fours
Ich überquerte kurz nach der Trinkwasserpause eine kleine Brücke mit einer schönen Aussicht auf das noch vor mir liegende Tal, dessen begrenzende Berge schon von der warmen Vormittagssonne beschienen wurden. Ich kam an einem weiteren Bivouakplatz und dann an der Refuge de la Balme (1.706 m) vorbei, die bis zum Pass die letzte Einkehrmöglichkeit darstellte. Von hier ging es nun steiler auf schmalen Bergpfaden weiter; die Straße hatte an der Hütte aufgehört. Ich ging noch so lange weiter bis ich den immer größer werden Kranz aus warmen Sonnenstrahlen erreichte und setzte mich dort in das noch etwas feuchte Gras zu meiner Frühstückspause: Apfel, Kekse, Nüsse. Ein wirklich schöner Flecken Erde etwas erhöht über dem Weg. Auf der anderen Seite grasten friedlich Kühe, deren Glocken man immer wieder hinaufschallen hörte. Erstaunlich viele Wanderer und Gruppen kamen vorbei als ich dort saß und ich hoffte, dass die Berge nicht jeden Tag so voll sein würden.
So gestärkt ging es weiter und ich überholte auf dem teilweise etwas steileren Wegabschnitt die meisten der Menschen, die ich vorher an mir hatte vorbeiziehen lassen. Es ging langsam die Bergflanke hinauf, die hier recht sanft in mit Gras bewachsenen Hängen abfällt.
Das einzige, was mich an dieser unglaublich schönen Umgebung an diesem warmen Sommertag störte, waren die bunten Plastikverpackungen von Energienahrung, die wahrscheinlich von den Läufern am Abend zuvor hier auf den Boden geworfen worden waren. Ich hatte erst überlegt sie aufzusammeln, aber es waren doch recht viele und ich ging in Richtung der Berge und nicht hinaus zu einem potentiellen Mülleimer. Fand ich ja nicht so cool… bis mir dann eine Stunde später ein paar Menschen entgegenkamen, die am Aufräumen waren. Sie sammelten den Müll auf und entfernten die Streckenmarkierungen, an denen ich mich in den letzten Stunden eigentlich auch immer orientiert hatte. Schade eigentlich, die kleinen rot-weißen Fähnchen alle paar Meter hatte ich schön gefunden. Nun waren diese Markierungen weg und mein geheimer Plan eine von den Fahnen zu klauen, jetzt wo das Rennen vorbei war, löste sich damit leider auch auf.
Vor dem ersten Pass des Tages (Col du Bonhomme, 2.329 m) landete ich in einer Schafsherde, die gerade von einer höheren Stelle heruntergetrieben wurde und dabei auch den Wanderweg benutzte, auf dem ich unterwegs war. Ein Hütehund kam vorbei und holte sich ein paar Streicheleinheiten ab, bevor er wieder seinem Job nachging. Ich hatte kurz vorher ein Paar überholt, das mit ihrem Hund die TMB wandert und war gespannt, was sie machen würden. Sie konnten nicht demselben Weg folgen wie ich, da sie den Hütehunden nicht begegnen wollten. Da die Herde jedoch in Bewegung war, konnten sie vom Weg hinunter um einen Hügel herum abkürzen und so den Hütehunden entgehen. Über diese Probleme mit Hund hatte ich gar nicht nachgedacht.
Es wurde steiniger hier oben. Ein Weg führte vom ersten Pass hinab in das Tal, aber für mich ging es noch höher. Die Hänge waren steiler und es war stellenweise mehr Kraxeln als entspanntes Gehen zwischen diesem ersten kleinen Pass und dem richtigen Col de la Croix du Bonhomme (2.483 m). Ein paar kleine Bäche querten immer wieder den Pfad, so dass man von Stein zu Stein balancieren musste, um keine nassen Füße zu bekommen.
Unterhalb des Passes liegt eine Refuge und so beschloss ich hier eine längere Pause zu machen und aß ein paar Kekse und Nüsse zum Mittag. Zur Hütte selbst ging ich nicht hinunter.
Der Weg war bis hierhin recht einfach zu finden gewesen, da es keine großartigen Abzweigungen gegeben hatte, aber nun führte der Hauptweg der TMB direkt hinunter ins Tal, wo die zweite Etappe enden sollte. Weil es noch so früh war, beschloss ich, diesem Weg nicht zu folgen. Nach links hinein in die sich vor mir ausbreitenden Berge wand sich ein anderer Pfad hinauf auf den Col des Fours (2.665 m) und dieser Weg würde zu einem kleinen Bergdorf mit Bauernhöfen führen, wo der Weg wieder auf die offizielle Strecke der TMB treffen würde. Da ich den direkten Weg gehen würde, konnte ich so über eine Stunde Zeit einsparen und auch einen Abschnitt umgehen, der entlang einer Straße führt. Ich würde auf der anderen Seite mal schauen, wo ich schlafen könnte.
Endlich weg von der Hauptroute wurde es direkt ruhiger und ich war wieder mehr alleine unterwegs. Ich genoss diese Zeit sehr und nahm so den nächsten knackigen Anstieg zum Pass gerne und gelassen auf mich. Es war weiterhin sehr felsig und die Steine hatten hier oben unterschiedliche Farben. Wo die Farbtupfer der Pflanzen fehlten, konnten die Felsen von beige-hellbraun über dunkelrot (stellenweise sehr eisenhaltig) bis zu dunklem Grau, das fast schwarz wirkte, wechseln. Von kleinen Kieseln zu blanken Felswänden waren auch den Formen und Größen keine Grenze gesetzt. Eine komplett andere Landschaft als ich bisher auf der Wanderung gesehen hatte.
Der Pass war unscheinbar, ermöglichte jedoch den ersten weiten Blick in das nächste Tal, auf dessen anderer Seite Italien anfangen würde. Bei perfekter Sicht kann man von hier den schneebedeckten Gipfel des Mont Blanc in der Ferne erkennen, jedoch war dieser durch ein paar Wolken vor meinen Blicken verborgen, welche sich über den Tag an seinen Flanken gesammelt hatten. Ein kühler, scharfer Wind wehte über die Bergflanke hinauf und ich wurde mir bewusst, dass dieser Punkt einer der höchsten der ganzen Route sein würde. Da ich später eine andere Variante nicht nehmen würde, war dies tatsächlich der höchste Punkt meiner ganzen Wanderung – ich vergaß leider diese Tatsache entsprechend zu feiern.
Schnell stieg ich in das Tal vor mir hinab, um dem beißenden Wind zu entkommen und wieder in den warmen Strahlen der Nachmittagssonne zu wandeln. Von hier aus ging es eine lange Zeit mal steiler, mal weniger steil bergab. Auf der einen Seite Weiden, auf denen Kühe grasten, auf der anderen ein Bergbach, der immer wieder laut rauschend nahe genug war, dass ich meine eigenen Gedanken kaum hören konnte. Immerhin konnte ich dort dann auch mein Wasser auffüllen, da ich ja oben am Pass nicht zu der Hütte hinabgestiegen war.
Nach etwa 1,5 Stunden kam ich durch das kleine Dorf „La Ville des Glaciers“ (1.789 m) und überquerte dort den Fluss „Torrent des Glaciers“, um auf die andere Talseite zu gelangen. Ich war wieder auf der normalen Route der Tour du Mont Blanc angekommen. Von hier stieg der Weg langsam wieder an und ich merkte, dass ich müde war. Ich wollte es also noch bis zur Refuge des Mottets schaffen und dort eine längere Pause einlegen. Dort angekommen, bestellte ich einen Crêpe und eine Cola, bekam allerdings ein Omelette, das eher dürftig belegt war. Etwas enttäuschend, besonders für den Preis. Dabei hatte der Typ sogar nachgefragt, ob ich den Crêpe mit allen Beilagen haben wollte. Seufz. Neben mir standen friedlich ein Pony und ein Esel und ich hatte einen netten Blick auf die Route, aber da der Wind hier ordentlich wehte, blieb ich nicht so lange, wie ich eigentlich vorgehabt hatte.
Col de la Seigne bis zur Refugio Elisabetta
Ich war nun auf der 3. Etappe angekommen, die unten im Tal im Dorf Les Chapieux beginnt (welches ich umgangen hatte), sich etwa 1,5 Stunden bis zu meiner jetzigen Position hocharbeitet und dann kurz vor der Refuge des Motetts nach rechts abbiegt, um in einen steilen Anstieg auf den Pass zu gehen, der die Grenze zwischen Frankreich und Italien markiert. Auf der anderen Seite geht es noch ein Stück hinunter bis zur Rifugio Elisabetta, wo die Etappe dann endet. 14 km, 1.100 Höhenmeter und knapp 5 Stunden.
Ich hatte ja ein ganzes Stück abgekürzt, indem ich den Col des Fours mitgenommen hatte und machte mich nun in der goldglühenden Nachmittagssonne auf den Weg zum dritten bzw. vierten Pass des Tages, wenn man die zwei „Col du Bonhomme“-Pässe einzelnd zählt. Es fing knackig an, denn in steilen Serpentinen ging es die Bergflanke hinauf, die von gelb-braunen Gräsern bedeckt war. Der Wind hatte mit dem ersten Schritt nachgelassen – die Hütte musste dort in einer Windschneise stehen – und mir wurde schnell wieder warm. Die langen Gräser raschelten leise, es roch nach trockenem Gras. Ein Sommergeruch.
Ein Denkmal erinnerte an ein Flugzeugunglück, das 1946 in den Bergen über mir passiert ist. Ein Teil des Motors war wohl noch Jahre in der Felswand stecken geblieben und die Überreste und Körper der Verunglückten waren erst 2012 im Eis der Gletscher hinabgespült und geborgen worden.
Nach diesem ersten steilen Abschnitt wurde es etwas entspannter und ich erreichte eine Hochebene, die zwar immer noch anstieg, aber nicht mehr so steil war. Viele Wege verzweigen sich dort oben, führten aber am Ende alle zu einem Ziel: dem Pass. Bei einer letzten Trinkpause lernte ich einen Franzosen aus der Champagne kennen, der heute noch Courmayeur erreichen wollte. Etwas zweifelnd merkte ich an, dass das noch etwa 5 Stunden von hier sind und es langsam Abend wird. Aber solange mich niemand zwingt so lange zu laufen, war es mir eigentlich auch egal. Jeder kann ja machen, was er / sie will.
Der Col de la Seigne liegt auf einer Höhe von 2.516 m und ermöglichte plötzlich den Blick in eine andere Welt. Ich stand auf einer Landesgrenze, wurde direkt mit einem „Ciao“ statt dem sonst gängigen „Bonjour“ gegrüßt und konnte in alle Richtungen unglaublich weit blicken. Eine Informationstafel zeigte die Himmelsrichtungen und verschiedene Städte und Landpunkte an. Die höchsten Berge wurden jedoch schon von Wolken verdeckt – eine gute wolkenlose Sicht hatte ich bisher nur heute Morgen gehabt. Man konnte gerade noch erkennen, dass dort Schnee unter den weißen Wolken hervorblitzte. Jedoch konnte ich tief in das Val Veny hinabblicken, das später zum Val Ferret wird, an dessen anderen Ende der Pass in die Schweiz liegt.
Ich erwartete einen schwierigen Abstieg hinunter ins Tal Val Veny, aber es wurde trotz verschiedener mäandernder Pfade ein recht entspannter Weg. Es ging vorbei an einem alten Zollgebäude, das nun ein Museum beinhaltet, was ich aber beim Vorbeigehen gar nicht bemerkte. Sie sollten ihre Außenwerbung noch mal verbessern, denn ich dachte, dass es eine normale Berghütte wäre.
Die spätsommerlichen Blumen kamen wieder zurück als ich weiter hinabstieg und nach etwa einer Stunde erreichte ich eine große Kreuzung, an der ein paar Mountainbiker eine Schotterstraße hinaufkamen. Die Rifugio Elisabetta lag links von mir vor einem tollen Panorama hoher Berge, blanker Felsen, Gletscherzungen und Wasserfällen. Es war etwa 17:30 Uhr und ich beschloss noch zum Talboden hinabzusteigen und mir dort dann ein nettes Fleckchen Erde zum Übernachten zu suchen.
Die eigentliche TMB-Route folgt einem kleinen Weg zu meiner rechten, den ich jedoch übersah, so dass ich den direkten Weg auf der Schotterstraße hinunter ging. Das machte aber nichts, denn so war ich näher an dem wundervollen Bergpanorama, das ich immer wieder staunend anschaute, und außerdem sah ich nah neben dem Weg ein ziemlich dickes Murmeltier. Das Kerlchen war auf jeden Fall gut für den Winter gerüstet.
Langsam fiel die Sonne hinter den hohen Horizont der Berge zurück und bestrahlte nur noch die Bergspitzen vor mir. Der Talboden lag schon im Schatten und war erstaunlich flach und so konnte ich meine müden Beine fast entspannen. Jedoch war es auch schwer dort einen geschützten Platz für mein Zelt zu finden, da alles voller kleiner Bäche und Seen war. Ich traf den Franzosen wieder, der nun mit seinem scheinbar etwas langsameren Freund unterwegs war und dieser war auch nicht dafür es heute noch bis nach Courmayeur zu schaffen. Wir beschlossen zusammen einen Platz zum Campen zu finden und liefen im Tal bis zu einem kleinen Wald weiter. Hier bog der Weg der TMB von der Straße ab – steil hinauf in die Bergflanke, die auf der rechten Seite das Tal begrenzte. Wir folgten jedoch weiter der Straße, denn die beiden wollten dieser Straße bis nach Courmayeur folgen, da dies schneller gehen sollte.
Nach mir endlos vorkommenden Minuten fanden wir endlich einen Platz zwischen Straße und Fluss, der flach und groß genug für 3 kleine Zelte war, und beschlossen dort die Nacht zu verbringen. Während ich noch in meinem Zelt war, mich notdürftig reinigte und meine Schlafsachen anzog, zündeten die beiden Franzosen ein riesiges Lagerfeuer an. Klar war die Wärme angenehm, aber Zelten war in Italien nicht direkt erlaubt und so schrie dieses Feuer geradezu: „Wir sind hier!“ Ich fühlte mich unwohl. Ein Auto hielt wenig später über uns an der Straße und der Fahrer teilte uns mit, dass die Polizei hier manchmal kontrollieren würde und dass wir das Feuer besser ausmachen sollten. Ich ließ die beiden Typen das regeln und ging in mein Zelt zum Lesen und dann Schlafen.
Was für ein Tag! Ich hatte 27,41 km und 1.904 Höhenmeter auf der Uhr; über 8 Stunden Gehzeit, bei einer Gesamtzeit von etwa 11 Stunden. Ich war mittlerweile auf der 4. Etappe (von 11 Tagen) angekommen und hatte gerade einmal Tag 2 abgeschlossen. Dann noch der Stress mit dem Feuer. Ich war ziemlich fertig. Aber ich bekam auch langsam die Zuversicht, dass ich die Tour du Mont Blanc in meinen 9,5 geplanten Tagen schaffen würde.