Les Houches bis hinter Les Contamies
Die erste Etappe der Tour du Mont Blanc startet traditionell in Les Houches und verläuft (entgegen dem Uhrzeigersinn) in südöstlicher Richtung hinein in das Nachbartal und zu dem recht großen Ort Les Contamines. Auf 17,5 km kommen 1.010 Höhenmeter, wobei der höchste Punkt der Col de Voza mit 1.653 m ist. Eine offizielle TMB-Variante führt von dem Col de Voza weiter über einen weiteren Pass auf 2.120 m Höhe, wodurch etwa 450 Höhenmeter und 1 km Wegstrecke dazukommen.
Für den frühen Nachmittag war Regen angesagt, aber da ich am Freitag noch arbeitete, konnte ich nicht vor 11 Uhr los. Die Vorhersage stimmte dann auch nicht ganz, denn es regnete schon um halb 10 recht ordentlich. Der Himmel zeigte sich grau als Mark mich mit dem Auto die 15 Minuten hinab nach Les Houches fuhr. Ich besorgte mir dort noch ein belegtes Baguette als Mittag- und Abendessen für den heutigen Tag, verabschiedete mich und dann ging es alleine los. Meine erste mehrtägige Wanderung ganz alleine hatte begonnen.
Den ersten Teil der Strecke war ich vor ziemlich genau einer Woche schon mit einer Freundin gewandert und fand ihn nicht besonders schön. Es geht einfach nur vom Tal aus hinauf – teilweise auf Schotterstraßen, die ich wirklich nicht mag. Also benutzte ich meinen Ganzjahres-Liftpass und fuhr mit dem Bellevue-Lift auf knapp 1.800 m hinauf (und kam somit oberhalb des Col de Voza heraus) und sparte mir so die ersten zwei Stunden bergauf Gehens. Davon würde ich die nächsten Tage noch genug bekommen.
Von dem Punkt oben hatte ich nun zwei Möglichkeiten: nach rechts hinunter zur Normalroute der TMB gehen, die von dort durch ein paar kleine Dörfer hinab nach Les Contamines ins Nachbartal führt und wenige schöne Aussichten liefert außer das, was ich momentan schon sehen konnte; oder nach links, wo direkt eine Variante startet. Ich hatte abends im Bett noch alle Informationen zu den beiden Routen gelesen und verglichen und mich für die Variante entschieden. Sie ist anstrengender, dauert länger und führt über einen Pass über 2.000 m, aber da ich ja die ersten Höhenmeter abgekürzt hatte, würde ich die Variante trotz der späten Stunde und des unbeständigen Wetters angehen.
Ich ging also los. Zunächst wurden die Bahnschienen überquert, die hier oben langliefen: Ein ambitioniertes Projekt aus längst vergangenen Zeiten, als es den Plan gab einen Zug bis zum Gipfel des Mont Blanc fahren zu lassen. Überraschenderweise hat dies nicht geklappt – Ironie aus -, aber man kann trotzdem auf bis zu 2.380 m fahren, was einem bei der Besteigung des Mont Blanc einige lange Höhenmeter erspart. Die Normalroute beginnt nämlich hier in den Bergen, auf der von Chamonix abgewandten Ostflanke des Mont Blancs.
Für mich ging es direkt in einen kleinen Wald hinein auf schmalen, aber schönen Wegen, die nun in die erste Wildnis der Berge führten. Es war auch nicht zu viel los, so dass ich die meiste Zeit alleine unterwegs war und einfach das Wandern genoss. Es ging leicht auf und ab, ohne zu große Steigungen und ich gewöhnte mich langsam an das Gewicht des vollgepackten Rucksacks auf meinem Rücken. Die Wolken ließen immer wieder ein paar Sonnenstrahlen hindurch, so dass es eine schöne erste Stunde wurde.
Eine Hängebrücke, die schon einige Male neu gebaut werden musste, da sie öfter von Lawinen hinabgerissen worden war, führte über einen rauschenden Bergbach, der von dem vielen schmelzenden Gletschereis über mir erzählte. Anstatt mich von den Bergen zu entfernen, wie es auf der Normalroute der TMB der Fall ist, kam ich immer näher. Der Weg in Richtung Mont Blanc bog nach links ab und ich betrat nun ein Tal, in dem die Gletscherzunge des Bionassay-Gletschers unter tiefhängenden Wolken in die friedliche Alpenwelt aus Büschen, Blumen und Blaubeeren floss. Am Ende des Tals konnte ich auch schon meinen ersten Bergpass der Wanderung sehen: den Col de Tricot. Zwei Wege führten hinauf und ich entschied mich für den etwas längeren, aber offiziell ausgeschilderten Weg, den kaum jemand wanderte. Er führte mich an dem Rand des Tals einen Hügel hinauf, von dem ich wundervolle Aussichten hinab auf die Normalroute im Nachbartal hatte.
Ich war schon hier froh diese offizielle Variante der Tour du Mont Blanc gegangen zu sein und würde sie jedem empfehlen, der die Zeit hat. Der Anstieg war stetig, aber nicht zu steil und so kam ich schon nach kurzer Zeit auf dem Pass an.
Oben auf dem Col (Französisch für Gebirgspass / Sattel) auf 2.120 m machte ich eine kurze Pause, trank noch etwas, aß ein paar Nüsse und genoss die Aussicht auf beiden Seiten. Ein Wegweiser zeigte die nächsten Etappenpunkte und ihre Entfernungen in Stunden an und ich war froh, dass ich mich über die Strecke vorher informiert hatte, denn es war durchaus gut zu wissen welches das nächste Dorf oder die nächste Refuge ist, um den Weg besser finden zu können. Besonders in Frankreich ist die TMB gar nicht so gut ausgeschildert, auch wenn man meistens rot-weiße Flaggen an Felsen und Schildern fand.
Ein kleiner Pfad wandte sich hier vom Pass ab hinein in die Berge und ich folgte ihm ein paar Meter, denn man konnte dort ein steinernes Tor sehen, das ich unbedingt erkunden und fotografieren wollte. Ein paar Tage später erfuhr ich, dass auf eben diesem Weg eine der Laufstrecken der diesjährigen Ultramarathonwoche langeführt hat, die an diesem Wochenende vorbei ging. Auf diesem 300 km langen Team-Rennen war ein brasilianischer Läufer in der Dunkelheit auf dem Pfad, der vor mir lag, gestürzt und ums Leben gekommen.
Vor mir lag nun der über eine Stunde dauernde kniezerstörende Abstieg – eine lange, steile und steinige Strecke hinab vom Pass in das nächste Tal. Unten wartete die erste Berghütte der Tour im Tal auf grünen Wiesen: die Refuge du Miage. Bei gutem Wetter kann man die über einem thronenden Bergspitzen der Aiguille de Bionassay (4.052m) und der Dômes de Miage bewundern, die für mich momentan verborgen waren. Der Himmel war die ganze Zeit schon bewölkt gewesen und nun zogen die dunklen grauen Wolken nah an mich heran und so kam es, dass ich nach etwa zwei Drittel des Abstiegs vom Regen überrascht wurde. Schnell zog ich meinen orangen Poncho über, der meinen Rucksack noch zusätzlich zu der Regenhülle schützte, die ich eh schon drauf hatte. Ich überlegte kurz meinen Plan B für trockene Schuhe umzusetzen und Sandalen für die Dauer des Regens anzuziehen, da meine Trailrunningschuhe nicht wasserfest waren, aber entschied mich dagegen. Die Steine wurden schnell nass unter den großen Tropfen und so rutschte ich kurze Zeit später aus. Durch das Gewicht des Rucksacks konnte ich mich auch nicht mehr abfangen und fiel auf mein rechtes Knie: Wunderbarer Start auf einer langen Wanderung. Glücklicherweise passierte mir außer einer dreckigen Leggins nicht viel und so ging ich direkt weiter und passte nun etwas besser auf meine Fußplatzierung auf.
Nach weiteren etwa 20 Minuten kam ich dann auch ohne weitere Zwischenfälle im Tal an. Ein kleines Dorf lag idyllisch vor der Berghütte. Dunkle Steine schmückten die Fassaden und ich fragte mich ob dieses Dorf nur im Sommer bewohnt ist. Ein Schotterstraße führte in dieses wundervolle Alpental, aber laut Wanderführer waren die Täler hier nicht ganzjährig bewirtschaftet.
Ich sah viele Wanderer, die in der Refuge du Miage Zuflucht vor dem Regen gesucht hatten, beschloss jedoch noch eine halbe Stunde weiterzuwandern zu der nächsten Hütte. Hinter mir waren noch viele Leute unterwegs und ich fühlte mich noch nicht nach Pause. Was ich nicht gewusst hatte, war, dass es nun wieder hinauf ging auf der anderen Talseite. Vielleicht hätte ich mich doch für eine Pause hier entschlossen, wenn mir das bewusst gewesen wäre. So aber ging ich nun hinauf und trat ein, zwei Mal auf den etwas zu langen Poncho. Jedoch wurde der Regen bald weniger und als ich oben ankam, begrüßte mich sogar die Sonne. Das Chalets du Truc war kaum besucht und lag umgeben von Weiden auf einer kleinen Bergzunge, die das Miage-Tal von dem großen Tal trennt, in dem die heutige Etappe enden soll. Man kann dort noch einen Ausflug auf den Gipfel des Mont Truc (1.811 m) machen, aber wegen des regnerischen Wetters ließ ich den heute aus.
Während meiner Mittagspause regnete es noch einmal, danach würde es für den Rest des Tages trocken bleiben und es war auch erst einmal der letzte Regen für einige Tage. Ich ging also nun entspannt weiter, trocknete in der warmen Sonne meine nassen Sachen, was nicht sehr lange dauerte, und folgte dem Weg hinab in das Tal zur recht großen und touristischen Stadt Les Contamines. Hier hätte ich im Supermarkt Vorräte auffüllen können, wenn ich nicht gerade erst aufgebrochen wäre. Leider waren die drei Trinkwasserbrunnen, die ich sah, außer Betrieb, so dass ich langsam ungeduldig wurde. Ohne Wasser wollte ich nicht mehr lange weiterlaufen und ich hatte fest damit gerechnet hier auffüllen zu können. Ich durchquerte den Ort und lief dann noch einmal eine halbe Stunde am Fluss entlang an den äußersten Rand, wo ein riesiger Freizeitpark lag, an den auch ein Campingplatz angeschlossen war. Hier wollte ich meine erste Nacht verbringen. Ich war dann aber doch überrascht, dass es über 10 Euro kosten sollte und beschloss weiterzuziehen. Immerhin füllte ich dort meine Flaschen auf und folgte dann den Schildern hinaus zurück in die Berge. Hier waren mir auf dem Campingplatz auch zu viele Menschen, denn es standen Dauercamper dort und man konnte Hütten mieten, was viele Wanderer der TMB wohl getan hatten.
Für mich ging es also erst einmal weiter, wieder bergauf und auf einer historischen römischen Straße mit alten Steinbrücken entlang. Beton hatte an einigen Stellen den originalen Belag ersetzt, später wurde er dann zu Schotter. Zunächst ging es noch durch einen recht dunklen Wald, dann wurde es offener, aber auch wilder. Man spürte, dass man zurück in den Bergen war.
Immer noch ging es bergauf und irgendwann fand ich dann hinter einer kleinen Refuge (Nant-Borrant) einen offiziellen Bivouak-Platz an einem Fluss, in dem gerade ein paar Leute badeten. Dieser war auch im Reiseführer angegeben gewesen und so hatte ich mir diesen als Ziel gesetzt. Ich war schon recht müde als ich dort ankam, denn es war von Les Contamines ausschließlich bergauf gegangen. Der Platz war perfekt, ich würde nicht alleine sein und hatte einen netten Platz unter Bäumen gefunden, der sogar ein Toilettenhäuschen hatte. Ich war begeistert, denn es handelte sich um eine Trenntoilette: ein Pissoir für Männer, ein Sitzklo mit Streu für feste Abfälle und sogar ein Pissoir für Frauen. Sehr fortschrittlich!
Langsam wurde es dunkel und ich machte mich fertig und las dann noch über den nächsten Wandertag auf meinem Ebook-Reader. Als ich gerade dachte, dass ich vielleicht schon versuchen könnte zu schlafen, hörte ich laute Jubelrufe in einiger Entfernung. Wer feierte bitte mitten im Nirgendwo eine Party? Dann hörte ich noch mehr Klatschen und Rufe und plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen: der UTMB! Der Ultra-Trail du Mont Blanc hatte heute Nachmittag in Chamonix begonnen und die Läufer kamen nun nach den ersten paar Stunden Laufen hier an. Der UTMB ist der krönende Abschluss der UTMB-Woche (verschiedene Ultra-Läufe in der ganzen Region, die an unterschiedlichen Stellen starten und immer in Chamonix enden) und folgt der TMB, die ich auch wanderte. 170 km Gesamtstrecke und der erste Läufer würde dieses Jahr einen Rekord brechen und weniger als 20 Stunden für diese Strecke brauchen. Er würde damit das 4. Mal dieses Rennen gewinnen – was für ein unglaublicher Athlet. Ich hüpfte also schnell in meine Schuhe und lief im Dunkeln zum Hauptweg hinauf, wo noch etwa 10 andere aus dem Camp standen. Sie hörten Musik und feuerten jeden Läufer an, der abgekämpft dort die Steigung hinaufkam. Stirnlampe um Stirnlampe kam herangelaufen und es war einer der schönsten Momente der Tour, als ich sehen konnte wie unsere Anfeuerungsrufe wieder Leben in die Beine der Sportler brachten und sie noch einmal losliefen anstatt zu gehen.
Mit diesem warmen Gefühl im Herzen und gedrückten Daumen für alle Sportler endete mein erster Wandertag der Tour du Mont Blanc: 18,88 km, 1.044 Höhenmeter, 6:38 Stunden (davon 5:15 gewandert).